Anatomie der Einsamkeit – Die Filme von Tsai Ming-liang

Das  Kino Arsenal in Berlin zeigt vom 1. bis zum 30. September zwölf Filme von Tsai Ming-liang.

Stefan Grissemann schreibt dazu:
Wenn man es definieren wollte, wäre das Kino wohl vor allem ein Manifest des Begehrens, der Versuch des Bewahrens unerklärlich schöner, flüchtiger Momente. Motive des “Perversen” haben dabei seit je, spätestens seit den lustvollen Regelverstößen der Surrealisten, ihren festen Platz. Tsai Ming-liang, Regisseur aus Taiwan, arbeitet seit einem Vierteljahrhundert mit der Anziehungskraft apokalyptischer Gesellschaftspanoramen und an seiner Version desolater -Erotik. Die schiere Bildgewalt, mit der Tsai von Entfremdung, Isolation und Lebensmüdigkeit berichtet (Kamera in fast allen Fällen: Liao Pen-jung), dient auch einem höchst eigenwilligen Humor. In seinem skeptischen Blick auf Liebesqual und Familienspannungen lodert eine – bisweilen kurios diskret anmutende – Sehnsucht nach Groteske und Tabubruch. Seine Erzählungen selbst hält Tsai Ming-liang schlicht, oft sehr fragmentarisch, um ihnen eine möglichst avancierte Form geben zu können. Das Arsenal würdigt den vielfach ausgezeichneten Autorenfilmer mit einer Retrospektive seiner zwischen 1992 und 2015 entstandenen zwölf Langfilme.

 

CHING SHAO NIEN NA CHA / REBELS OF THE NEON GOD
1992, 1.9., Einführung: James Lattimer & 18.9.)

AIQING WANSUI / VIVE L’AMOUR
(Taiwan 1994, 2.9., Einführung: Cristina Nord & 20.9.)

HE LIU / THE RIVER
(Taiwan 1997, 3. & 25.9.)

DONG / THE HOLE
(Taiwan/Frankreich 1998, 4. & 30.9.)

NI NEI PIEN CHI TIEN / WHAT TIME IS IT THERE?
(Taiwan/Frankreich 2000 | 5. & 21.9.)

BU SAN / GOODBYE, DRAGON INN
(Taiwan 2003, 6. & 23.9.)

TIAN BIAN YI DUO YUN / THE WAYWARD CLOUD 
(Taiwan/Frankreich 2004, 7. & 22.9.)

HEI YAN QUAN / I DON’T WANT TO SLEEP ALONE
(Taiwan/Frankreich/Österreich 2006, 8. & 14.9.)

VISAGE
(Frankreich/Taiwan/Belgien/Niederlande 2009, 9. & 29.9.)

JIAO YOU / STRAY DOGS
(Frankreich/Taiwan 2013, 10. & 28.9.)

XI YOU / JOURNEY TO THE WEST
(Frankreich/Taiwan 2014, 11. & 16.9.)

NA RI XIAWU / AFTERNOON
(Taiwan 2015, 12. & 27.9.)

 

Tsai Ming-liang

1957 in Malaysia geboren, in Taipeh als Künstler initiiert, hat Tsai inzwischen seine Zweifel an der Zukunft des Kinos geäußert, vorsichtig sogar seinen Ausstieg als Filmemacher angedeutet. Kurz vor seinem 60. Geburtstag scheint der Bogen, den seine internationale Karriere seit 1992 geschlagen hat, tatsächlich zu einem Ende zu kommen: Den Naturalismus der frühen Werke hat Tsai konsequent ins Visionäre, Fantastische, in den Fiebertraum getrieben, seine Autorenfilmkarriere folgerichtig vom Erzählerischen weg ins Installative gelenkt. Sein aktuelles Schaffen passt besser in Galerien- und Museumsräume als in jenes sterbende alte Lichtspielhaus, das er in GOODBYE, DRAGON INN noch gefeiert hat. Kein einziger seiner Kinofilme, sagt Tsai, hätte ohne den phlegmatischen, oft rätselhaft agierenden Darsteller Lee Kang-sheng entstehen können, den er einst in einer Spielhalle entdeckt hatte. Dieser trägt in allen Filmen denselben Rollennamen (Hsiao-kang), als spielte er – über die Grenzen der jeweiligen Fiktion hinaus – stets nur sich selbst. Lees minimal acting bietet die perfekte Entsprechung zu den extrem reduzierten Storylines seines Regisseurs. Die Zeit manipuliert Tsai Ming-liang gerne: Das gemessene Erzähltempo, mit dem er operiert, und seine wortkargen Erzählungen benötigen Konzentration; in langen, statischen Einstellungen entfalten sich diese Werke, die auch dazu neigen, intensiv über sich selbst nachzudenken: Um die Wirkungen von Licht(entzug) und Blick(verweigerung) geht es Tsai Ming-liang überall, Filme-im-Film komplizieren die Erzählebenen, indem vielfältige Verweise auf Hollywoods Musicals und Frankreichs Nouvelle Vague für zusätzliche Selbstreflexion sorgen. Die Figuren treiben durch die Stadt, lakonisch, ziellos, dem Schicksal ergeben, aber der Farce nicht abgeneigt, die in Depressions-Singspielen und im Porno-Slapstick liegt. Dreiecksbeziehungen entstehen, Lebenswelten kollidieren, man irrt alleingelassen durch Ruinenlandschaften und postindustrielle Durchgangszonen, lebt provisorisch und polyamourös, queer und hetero, in Ungewissheit und ausgebrannten Abbruchhäusern. Im Attraktionskino des Tsai Ming-liang ist Voyeurismus eine Grundbedingung und, allem Kulturpessimismus zum Trotz, der Wasserschaden eine Garantie für den ewigen libidinösen Fluss der Fantasien.

 

Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V.

Die lebendige Vermittlung internationaler Filmkultur ist Ziel und Aufgabe des Arsenal – Institut für Film und Videokunst: An der Schnittstelle von Theorie und Praxis schafft das Institut Raum für (film)kulturelles Querdenken, im Kino richtet es den Blick auf den unabhängigen und experimentellen Film, als vernetzte Kommunikationsplattform fördert es den dynamischen Austausch von Film, Wissenschaft und Kunst.

Die Arbeit umfasst den Betrieb der Kinos Arsenal 1 und 2, die Durchführung des Internationalen Forums der Berlinale sowie Forum Expanded, den Filmverleih arsenal distribution sowie die Sammlung und Vermittlung von Werken der avantgardistischen Filmgeschichte, des unabhängigen und experimentellen Kinos. Den Vorstand bilden die Filmwissenschaftlerinnen und -kuratorinnen Milena Gregor, Birgit Kohler und Stefanie Schulte Strathaus.

Das Arsenal – Institut für Film und Videokunst erfüllt als gemeinnütziger Verein einen kulturellen Auftrag. Dazu erhält es eine Förderung durch die Beauftragte des Bundes für Kultur und Medien (BKM) und erfährt jeweils projektbezogen Unterstützung von zahlreichen Institutionen und Partnern.

 

Eine Veranstaltung mit freundlicher Unterstützung des Kulturministeriums Taiwan. Dank an die Taipeh Vertretung in der Bundesrepublik Deutschland.